Bitte Hermann Scheer lesen!

Bitte Hermann Scheer lesen!

August 22, 2022 0 Von Christfried Lenz

Hermann Scheer wird gern als „Vater der Energiewende“ bezeichnet. In der Tat ist er der entscheidende Vordenker. Doch sind seine Gedanken überhaupt noch bekannt? Lassen sich die heutigen Akteure der Energiewende von ihnen inspirieren? Ich habe mir mal sein letztes Buch „Der energethische Imperativ“ (erschienen in seinem Todesjahr 2010) vorgenommen und möchte anregen, sich hiermit intensiv zu befassen.

Es hat einen Vorgänger mit einem Buchstaben weniger: „Der energetische Imperativ“ von Chemie-Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald, erschienen 1912. Der Verfasser macht darauf aufmerksam, dass die Vorräte an fossilen Brennstoffen begrenzt sind. Als Energiequelle für eine Wirtschaft, die dauerhaft sein soll, kommen sie daher nicht in Frage. Nur die nach menschlichen Begriffen unerschöpfliche Sonnenenergie eignet sich hierfür.

Diese Feststellung ist einfach, klar, schlechterdings unwiderlegbar und entspringt einem Geist, der sich an den Naturgesetzen orientiert und darüber nachsinnt, wie die Menschen im Sinne ihres Wohlergehens mit diesen umgehen sollten.

Ostwald war zu seiner Zeit eine angesehene Persönlichkeit, doch wurde sein Ansatz niedergewalzt vom „homo oeconomicus“, dem persönlicher Gewinn für ein paar Jahre alles bedeutet und Nachhaltigkeit oder das Wohl der Menschheit nichts.

Scheer hat das „h“ eingefügt und damit auf die entscheidende Bedeutung der Ethik – er nennt sie auch „gesellschaftlicher Wert“ – bei der Ablösung der fossil/atomaren Energien durch die Erneuerbaren hingewiesen. Nachdem zusätzlich zur fehlenden Nachhaltigkeit der fossilen Energien deren lebenzerstörende Wirkung zutage tritt, ist dies von äußerster Dringlichkeit. „Sie [die erneuerbaren Energien] repräsentieren daher einen den atomaren und fossilen Energien überlegenen gesellschaftlichen Wert. Für das Denken über Energie ist das der springende Punkt.“ (S. 10) Und das Einschlagen des schnellstmöglichen Weges zum Energiewechsel „darf nicht nur betriebswirtschaftlich oder >energiepolitisch<, sondern muss volkswirtschaftlich, gesamtpolitisch und nicht zuletzt nach ethischen Grundsätzen entschieden werden.“ (S. 26)

Scheer spricht übrigens nicht von „Energiewende“, sondern gebraucht den Begriff „Energiewechsel“. Dieser ist entschiedener, strikter als „Wende“, bei der ein „sich winden und wenden“ leicht mit ins Spiel gerät. Auch wertschätzt er die aus Dänemark stammende Ausdrucksweise „bleibende“ Energie statt „erneuerbare“. Sie ist in der Tat zutreffender, denn es gibt niemanden, der etwa die Sonnenenergie erneuert, auch sie selber erneuert sich nicht, sondern ist einfach ständig da.

So wie durch die Dampfmaschine die industrielle Revolution und damit die Umwälzung der gesamten Gesellschaftsstruktur ausgelöst wurde, handelt es sich auch beim Umstieg auf die Erneuerbaren nicht bloß um eine technische Veränderung der Energieerzeugung, sondern um einen Vorgang von „zivilisationsgeschichtlicher Bedeutung“.

Im konventionellen Energiesystem aus fossil oder atomar betriebenen zentralen Großkraftwerken haben sich wenige Konzerne zu Oligopolen entwickelt. Die übergreifenden zentralistischen Strukturen führen ganz naturwüchsig zu einer Verquickung mit staatlichen Instanzen, so dass „Regierungen zum integralen Bestandteil der atomaren/fossilen Energiewirtschaft“ wurden und so ein übermächtiges Bollwerk entstand. „Die konventionelle Energiewirtschaft … hat die Gesellschaften angekettet … Sie errang nicht nur eine bereits von ihren Energiequellen vorbestimmte Monopol- bzw. Oligopolstellung, sondern auch das geistige Monopol. Sie hat das Weltbild der Energieerzeugung geprägt“. (S. 40) So wird „selbst unter Protagonisten erneuerbarer Energien“ „der überkommenen zentralisierten Struktur immer noch ein überragender und unverzichtbarer Stellenwert zuerkannt.“ (S. 128)

Die Gründe sieht Scheer „bis ins Psychologische“ reichend: „Bei nicht wenigen ist es vielleicht unbewusstes Grundvertrauen in die etablierten Energieanbieter, ein verinnerlichter Respekt vor den angestammten Majestäten der konventionellen Energieversorgung“. Oder: „Das überkommene Energiesystem mit seinen Großstrukturen spricht ein trügerisches Sicherheitsbedürfnis an und schürt Ängste vor Alternativen.“ (S. 128f)

Mächtige Hindernisse stehen dem Wechsel auf die Erneuerbaren also entgegen; wie können letztere ihre unbezweifelbare Gesamtüberlegenheit hinsichtlich des gesellschaftlichen Wertes real werden lassen?

Eine Zeit des Übergangs, in der das konventionelle System und die Erneuerbaren nebeneinander existieren, ist unvermeidlich. Scheer nennt sie „Hybridphase“, die von heftigen Reibungen, Konflikten und vielgestaltigen Kämpfen zwischen dem Alten und dem aufstrebenden Neuen gekennzeichnet ist. Während in der Anfangszeit des Energiewechsels die Fronten sehr klar waren – auf der einen Seite die Phalanx des überkommenen Machtgefüges, auf der anderen eine noch kleine Schar von Pionieren – wurde im Zug der weiteren Entwicklung die Gemengelage komplizierter. Die Konzerne gaben ihre Totalablehnung auf und begannen, selber in die Erneuerbaren zu investieren – wenn auch in einem eher symbolischen Umfang. Die Unterscheidung, wer ist jetzt eigentlich Freund und wer Feind, wurde dadurch aber erschwert. In den Kreisen der Akteure des Energiewechsels entstanden unterschiedliche Einschätzungen: sollte man sich in Kooperationen mit Teilen des konventionellen Systems einlassen oder nicht? – Indem derartige Fragen unterschiedlich beantwortet wurden, kam es zu Differenzen und Spaltungen innerhalb der Befürworter des Energiewechsels.

Scheer illustriert: „Regierungen laden zu Konsensgesprächen ein, in denen es um ein Nebeneinander und Miteinander von konventionellen und erneuerbaren Energien geht. … Vielen Verfechtern erneuerbarer Energien, die sich lange in einer verachteten Außenseiterrolle befanden, erscheint das als großer Fortschritt. Und weil Konsens immer angenehmer ist als Konflikt, entsteht daraus auch praktische Kompromissbereitschaft, in der oft unversehens die meist unsichtbare Grenze überschritten wird, an der ein Kompromiss aufhört und die Kompromittierung beginnt.“ Und er stellt klar: „Die Frage muss stets sein: Konsens für was und mit wem, und wer sitzt dabei am längeren Hebel? … Ein Konsens aller Betroffenen für einen schnellen Energiewechsel wäre nur denkbar, wenn das damit verfolgte Ziel eine >win-win←Perspektive für alle eröffnete. … Bei der Umorientierung zu erneuerbaren Energien ist jedoch ein >win-win< objektiv unmöglich. … Ein Strukturwandel ohne Verlierer und Gewinner ist undenkbar. Verlierer werden unweigerlich die Anbieter der konventionellen Energien sein“. “ (S. 23)

Der Schlüssel liegt also nicht in geschicktem Verhandeln, im Konsens oder Kompromiss, sondern vielmehr in der großen Zahl und der Vielschichtigkeit der Akteure. „Die zur Ablösung der konventionellen Energien führende technologische Revolutionierung der Energieversorgung kann sich nur über viele unabhängige Initiativen an vielen Plätzen entfalten, nicht über eine technokratisch durchgeführte Planifikation durch politische und wirtschaftliche Entscheidungseliten, die diesen Prozess zeitlich und räumlich gestaffelt organisieren.“ Neue Fakten können nur gesetzt werden, „ohne dass die Träger der bestehenden Struktur um Erlaubnis gefragt werden … Jede Revolution wird zur Farce, wenn den >revolutionären Kräften> Zeitpunkt, Methode und Standort ihrer Aktionen zugewiesen werden sollen, wenn sie sich dafür anmelden und bewerben müssen. Der Widerspruch wird noch größer, wenn das Zulassungsverfahren in der Hand derjenigen liegt, gegen die sich die Revolution richtet.“ (S. 158) Scheer weist weiter auf „Formen der gemeinschaftlichen oder sogar der individuellen Selbstversorgung“ hin und auf das „eigene Gestaltungsinteresse“ von Menschen, die ein „sie selbst betreffendes und nicht allein ein globales Interesse an einer emissionsfreien Energieversorgung“ haben. (S. 161)

„Mit der Möglichkeit der autonomen Verfügbarkeit erneuerbarer Energien wird Energie vom bloßen Wirtschafts- und Konsumgut zum Kulturgut. Das ist die Sozio-Logik erneuerbarer Energien: Aus der >passiven Energiegesellschaft< mit immer weniger und dabei immer größer werdenden Anbietern einerseits und gleichgeschalteten und verplanten Energiekonsumenten andererseits wird die >aktive Energiegesellschaft< , in der die Energieversorgung in wachsendem Maß autonom erfolgt, in zahlreichen neuen Trägerformaten.“

Gerade in der aktuellen Situation, in der das Handeln der „offiziellen“ Politik mehr und mehr im Chaos versinkt, ist zu empfehlen, dass die Akteure des Energiewechsels eigene und autonome Konzepte entwickeln und sich dabei an Hermann Scheer orientieren.

Dieser Text erschien am 12.08.2022 im pv-magazine