Energiewende befindet sich an Wegscheide
Aufpassen, dass die Wirkungen des Bundesverfassungsgerichtsurteil in die richtige Richtung gehen!
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) wühlt auf, bricht vielleicht sogar etwas auf. An uns ist es, dafür zu sorgen, dass die entfachte Bewegung auch in die richtige Richtung geht.
Die Energiewende befindet sich nämlich an einer Wegscheide: Bisher wurde die von konventionellen Konzernen im Wesentlichen durch Kohle und Atom bereitgestellte Stromversorgung nicht in Frage gestellt. Die Erneuerbaren gaben sich mit der Rolle des Zulieferers in den großen Topf zufrieden.
Nun haben sie einen Anteil von mehr als 50 Prozent erreicht. Und damit kommt die Systemfrage auf die Agenda: soll/kann der Weg zu 100 Prozent Erneuerbar, der nun ansteht, weiterhin der Ägide der Konzerne überlassen bleiben, oder müssen die Akteure, die die Energiewende gestartet und – gegen vielfache Behinderungsmanöver seitens Konzernen und Regierungen – bis zum heutigen Stand vorangebracht haben, nun die Verantwortung für die Energieversorgung insgesamt übernehmen?
Die Erneuerbaren unterscheiden sich vom Reststrom nicht nur durch ihre klima- und umweltschützende Erzeugungstechnik, sondern auch durch eine völlig andere soziale Struktur. Während sich der Reststrom im Wesentlichen in der Hand von vier Konzernen befindet, stehen hinter den Erneuerbaren rund zwei Millionen Menschen, die aus rund ebenso vielen überwiegend winzigen Erzeugungsanlagen diese Strommenge zusammentragen.
Wie also sind die Weichen zu stellen?
Die von Wissenschaftlern des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin und der TU Berlin erarbeitete Studie „100 Prozent erneuerbare Energie für Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Dezentralität und räumlicher Verbrauchsnähe – Potenziale, Szenarien und Auswirkungen auf Netzinfrastrukturen“ kommt zu dem Ergebnis, dass die Energiewende durch Dezentralität, also verbrauchsnahe Stromerzeugung, billiger wird und durch praktische Einbindung der Bevölkerung die Akzeptanz steigt.
Über die Studie hinaus muss berücksichtigt werden, dass der Daseinszweck von Kapitalgesellschaften nun mal nicht in der ganzheitlichen Lösung von Problemen besteht, sondern im finanziellen Gewinn. Genau diese Ausrichtung hat aber zu Klimaerhitzung und Naturzerstörung geführt! Man kann kaum erwarten, dass eine Motivation in der Lage ist, die Probleme zu lösen, die durch sie entstanden sind.
Bei den Menschen und auch bei den Firmen, die sich der Energiewende verschrieben haben, ist das prinzipiell anders. Gewiss müssen auch sie leben und sich in einer kapitalistischen Umwelt behaupten. Was sie antreibt, ist jedoch die Faszination durch die erneuerbaren Energien, die Möglichkeit, durch sie von der bisherigen zerstörerischen Existenzweise der Menschheit zu einem Miteinander mit den anderen Lebensformen und Gegebenheit des Planeten hinzufinden.
Man kann also klar sagen: nur die aktiven, von der Sache her motivierten Kräfte aus der Bevölkerung – die „Bürgerenergie“ – sind in der Lage, die Energiewende erfolgreich weiterzuführen zu 100 Prozent!
Fragen, denen sich die Bundesregierung stellen muss:
Unter dem Druck des Karlsruher Urteils hat das Umweltministerium den Entwurf einer Novellierung des Klimaschutzgesetzes vorgelegt.
Danach soll die Treibhausgas-Minderung bis 2030 von 55 auf 65 Prozent angehoben werden. Das ist völlig unzureichend, aber nicht der einzige kritikwürdige Sachverhalt. Wie Jörg Staude (in „Klimareporter“) darlegt, sollen die verschärften Klimaziele nicht nur durch Minderung von Emissionen erreicht werden, sondern durch Gegenrechnung von CO2-Absorbtion durch „CO2-Senken“, insbesondere Wälder. Hierbei wird der Mogelei Tür und Tor geöffnet: Der Zustand der deutschen Wälder ist durch Dürre und Hitze schlecht. Dass er sich erholt, ist angesichts des Klimawandels unwahrscheinlich.
Die Glaubwürdigkeit der Regierung wird weiter unterhöhlt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass laut Bundesverkehrswegeplan bis 2030 mit dem Neubau von (unter anderem) 500 Kilometern Autobahnen zu rechnen ist. Hierbei werden viele Quadratkilometer noch gesunder Wälder dem Auto geopfert. Junge, mutige Menschen kämpfen unter Einsatz ihres Lebens für unser aller Zukunft. Sie besetzen Bäume, um die Fällung zu verhindern, vor einiger Zeit in Hessen, jetzt in Sachsen-Anhalt. Wird die Bundesregierung nun, wo sie sich der Bedeutung der Wälder als CO2-Senken erinnert, die Forderungen der Baumbesetzer erfüllen, die gegen sie verhängten Strafen zurücknehmen und sie künftig würdigen statt zu kriminalisieren??
Wirtschaftsminister Altmaier hat die Anhebung von Ausbaupfaden der erneuerbaren Energien angekündigt. Doch wie ist das zu verstehen? Will er lediglich Ausbau-Obergrenzen erhöhen oder befördert er das ganze bisherige Bremssystem in den Abfalleimer, indem Ausbau-Untergrenzen verbindlich festgelegt werden und Obergrenzen ersatzlos wegfallen?
Und nochmal Altmaier: Für ihn steht das Jahr 2030 bisher für die Gaszukunft. Nach dem „Dialogprozess Gas 2030“ im Herbst 2019 verkündete er: „Als erste Bilanz des Dialogs ist festzuhalten, dass gasförmigen Energieträgern in der Energieversorgung der Zukunft weiterhin eine zentrale Rolle zukommen wird.“ Mit „Gas“ ist Erdgas gemeint, mit dessen Förderung auch aus dem Untergrund der Ägäis, er die freudige Hoffnung verbindet, die nach dem Abschalten der Atomkraftwerke zu erwartende „Stromlücke“ nicht mit Erneuerbaren, sondern mit Erdgas füllen zu können. Wird sich Altmaier nach dem Karlsruher Urteil von seiner Erdgas-Strategie verabschieden?
Wie steht die Bundesregierung zu der einzig ehrlichen und verlässlichen Energiewende-Kraft, der Bürgerenergie?
In der Vergangenheit hat sie diese nur drangsaliert. Dazu hat die EU im Dezember 2018 einen Kontrapunkt gesetzt: in der Richtlinie zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen entwirft sie eine neue Energiewelt. Die EU schreibt vor: Jeder Mensch hat das Recht, sich sowohl individuell als auch gemeinschaftlich mit erneuerbaren Energien zu versorgen, ohne bürokratische Hürden und sonstige Beschränkungen. Dies soll gerade auch einkommensschwachen Haushalten und Mietern möglich sein.
Die Richtlinie muss bis 30. Juni 2021 in deutsches Recht umgesetzt werden. Seitens der Bundesregierung sind keinerlei Anstalten zu erkennen, dies auch zu tun. Von Anfang an hat sie diese Richtlinie – die zur ihrer gesamten konzernfreundlichen Energiepolitik in der Tat eine 180-Grad-Wende darstellt – quasi geheim gehalten. Jetzt will sie deren Umsetzung offenbar schlicht im Sand verlaufen lassen. Wird sie angesichts des Bundesverfassungsgerichtsurteils bei diesem Vorhaben bleiben?
Was sind die richtigen Konsequenzen aus der Ermahnung der Karlsruher Richter zu mehr Klimaschutz?
Die Energy Watch Group (EWG) hat mit ihren „Eckpunkten für eine Gesetzesinitiative zur Systemintegration Erneuerbarer Energien“ aufgezeigt, wie der Weg zur 100 Prozent-Versorgung durch die Erneuerbaren weitergehen muss. Wenn die Ermahnung des Bundesverfassungsgerichts zu mehr Klimaschutz praktisch werden soll, müssen diese Eckpunkte zeitnah in Gesetzesform gebracht werden und in Kraft treten.
Der Begriff „Klimaneutralität“ ist untauglich. Er gaukelt Ausgleichsmöglichkeiten vor, die irreal sind. Die einzige Chance gegen die nahende Heißzeit lautet: 100 Prozent Erneuerbare bis 2030! Diese Jahreszahl, die von Metropolsolar in die Diskussion eingebracht wurde, erweist sich zunehmend als gemeinsamer Nenner derjenigen, die verstanden haben, dass das business as usual umgehend von disruptiven Prozessen abgelöst werden muss. 2030 wird auch in einer sehr wichtigen australischen Studie, auf die Hans-Josef Fell aktuell hinweist, als Jahr der Entscheidung gesehen.
Parallel zur Energiewende muss die Rückholung des Übermaßes von CO2 aus der Atmosphäre in Angriff genommen werden. Deren wesentliche Methode dürfte die Nutzung der Photosynthese und die Unterbindung der Oxydation der dabei entstandenen Biomasse sein.